Ach,
das machen Seher!
„Was
ist denn jetzt mit den Sehern?“, fragte Emil ungeduldig. Martin war
währenddessen dabei das Regal in der Schulbibliothek abzusuchen.
„Einen
Moment ...“, murmelte er, bevor er schließlich das fand, was er
suchte und das Buch aus dem Regal zog.
Es
war alt, das sah Emil auf den ersten Blick, doch er verstand das
Ganze noch nicht ganz.
„Mir
ist aufgefallen, dass ich das mit den Sehern gelesen hatte.“
„In
diesem Buch da?“, Emil deutete darauf.
„Natürlich
in diesem Buch.“ Martin ging mit dem dicken Schinken hinüber zum
nächsten Tisch. Die Bibliothek war bis auf die Zwei total leer, denn
wer lieh schon Freitag Nachmittag ein Buch aus?
Als
wüsste er schon, welche Seite es war, schätzte er kurz die
Seitenzahl ab, blätterte kurz und trat dann ein paar Schritte
zurück, damit Emil lesen konnte.
Er
überflog die Seite. Der Text behandelte die Möglichkeit, dass es
Menschen gab, die die Zukunft vorher sahen und deshalb versuchten
diese zu ändern. Es wurde auch der Vorschlag gemacht, diese Seher
einzusetzen, um Geheimnisse zu wahren. Doch weder von Hexen noch
Dämonen stand dort etwas.
„Wie
kommst du darauf, dass das hier etwas damit zu tun hat?“ Emil sah
ungläubig von dem Buch auf.
„Ich
habe mich gefragt, warum niemand etwas mitbekommt, dass diese Wesen
hier ihr Unwesen treiben. Es muss eine Instanz geben, die verhindert,
dass sie auffliegen.“
„Seher
also.“
„Die
wissen würden, wenn Dämonen etwas versuchen würden.“
„Du
glaubst, hier ist ein Seher und passt auf, dass Marie mir nichts
antut?“
„Ja,
das glaube ich.“
„Na,
da bin ich ja beruhigt.“
„In
der Schule bist du also sicher“, stellte Martin fest.
„Deshalb
vielleicht der Anruf!“, brach es plötzlich aus Emil heraus.
„Welcher
Anruf?“
„Bevor
Marie zu mir kam, bekam ich einen Anruf, ich sollte niemanden herein
lassen. Ich wäre in Gefahr.“
Martin
nickte nachdenklich.
„Vielleicht
war das der Seher!“, fuhr Emil aufgeregt fort.
„Der
Seher? Ein Mann?“
„Nein,
eine Frau. Sie schien mich warnen zu wollen. Ganz sicher, das muss
die Seherin gewesen sein.“
„Kann
sein“, räumte Martin schulterzuckend ein. „Wir wissen also, dass
du von einer Frau beschützt wirst, die hier irgendwo auf der Schule
ist. Das beruhigt mich doch.“
„Mich
auch“, atmete Emil auf.
„Das
heißt nicht, dass du außer Gefahr bist! Ein Seher kann dich auch
nicht retten, wenn du wieder wie bei Lilian ins offene Messer
rennst.“
„Wieso?“
„Du
wolltest sie schon wieder küssen“, erwiderte Martin eindringlich.
„Neidisch?“
„Du
hättest daran sterben können!“
„Du
glaubst doch nicht, was Ina erzählt hat? Dass Lilian mein Leben
aussaugen würde?“
„Das
letzte Mal bist du im Krankenhaus gelandet.“
„Schon
...“, räumte Emil ein.
„Mach's
deinem Beschützer einfach nicht so schwer.“
Darauf
gab Emil auf und nickte. „Hast Recht, der hat sicher noch mehr zu
tun, als sich um mich zu kümmern.“ Bis ihm dann doch etwas
auffiel: „Was macht so ein Buch eigentlich in unserer
Schulbibliothek?“
Martin
zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab es hier vor einigen
Monaten gefunden.“
„Vielleicht
gehört es dem Seher.“
„Möglich
... Wenn wir von Sehern sprechen. Hast du die neue Marvel
Comicverfilmung schon gesehen?“
Emil
schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“
„Heute
Abend Kino?“
„Warum
nicht.“
~*~*~*~*~
„Ich
wusste, dass es ein Fehler war, meinen grobschlächtigen Cousin zu
bitten mir zu helfen!“ Marie lief aufgebracht in ihrem Zimmer
herum, während ihr Cousin, etwas verdruckst dabei stand. „Es ist
doch klar, dass sie keine Wächterin ist! Sie ist viel zu jung und
außerdem in meiner Stufe!“
„Du
hast auch einen Seher in deiner Stufe“, verteidigte sich der junge
Mann.
„Richard,
du bist nicht blöd, wie die Gehilfen in schlechten Filmen, aber das
hättest du doch merken müssen!“ Marie piekste mit den Fingern in
seinen muskulösen Oberkörper.
„Sie
hat mich auf der Straße überrascht“, verteidigte Richard sich.
„Wie
viel hast du ihr verraten?“
„Nichts.“
„Na,
ein Glück. Dann habe ich weniger zu löschen.“ Marie ließ sich
seufzend auf die Kante ihres Bettes sinken, auf dem die bewusstlose
Ina lag. „Damit verschwende ich eine Menge Zauberkraft.“
Geschickt ließ sie die Hand über Inas Kopf kreisen. „Wenigstens
hat sie eine schwache Quelle, dann wird es einfacher gehen.“
Mit
den Fingern zog sie das Symbol auf Inas Stirn, dann ließ sie die
Hand auf ihr Gesicht sinken. Marie begann unverständliche Worte zu
murmeln und ein unwirkliches farbloses Licht erfüllte die Stelle an
der sie das Zeichen gemacht hatte. Richard hatte noch nie gesehen,
wie Marie einen schwierigen Zauber ausführte. Für gewöhnlich
zauberte sie überhaupt nicht und umso erstaunter war er.
Marie
wiederholte die Formel immer und immer wieder. Erst Minuten später
verstumme sie und löste die Hand, sichtlich erschöpft.
„Du
kannst sie wieder irgendwo aussetzen.“ Maries Stimme war schwach
und es fiel ihr deutlich schwer aufrecht zu sitzen.
„Jetzt
weiß ich, warum Seher nicht andauernd Gedächtnisse löschen“,
stellte Richard fest.
„Und
pass auf, dass sie nicht vorher aufwacht“, fügte Marie gequält
hinzu, ohne auf ihn einzugehen. „Sonst wäre die ganze Arbeit
umsonst gewesen.“
„Natürlich.“
Er kam zu ihrem Bett hinüber und hob Ina hoch. „Alles in Ordnung?“
„Ja,
ja. Geh schon!“ Sie deutete Richtung Tür und Richard trug Ina ohne
Wiederworte hinaus. Erst als er die Tür hinter sich geschlossen
hatte, ließ sich Marie kraftlos nach hinten auf das Bett fallen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen