Nur
eine Bedingung
Emil
nahm auf der Treppe direkt zwei Stufen auf
einmal und warf oben
angekommen einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünf nach acht. Ein
flüchtiger Blick in den gegenüberliegenden Gang verriet ihm, dass
seine Lehrerin Frau Merchen am anderen Ende des Ganges gerade auf
dem Weg zum Unterrichtsraum war. Vor sich schob sie
einen Rolltisch, auf
dem ein Stapel mit
Büchern und Ordnern lag.
Emil hatte also einen
deutlichen Vorsprung und noch genug Zeit, um vor ihr am Raum zu sein.
Er
verlangsamte sofort seinen Schritt, es gab ja keinen Grund mehr sich
zu beeilen und schlug seelenruhig den Weg zum Raum ein.
Hinter
sich hörte er das Klappern des Rollwagens, erst gedämpft, dann
lauter werdend. Zunächst dachte er sich nichts dabei, bis das Rollen
dicht hinter ihm war.
„Ich
bin vor Ihnen da!“, hörte er seine Lehrerin neben ihm sagen, dann
zog sie mit dem Rollwagen an ihm vorbei.
Nur
einen kurzen Moment starrte Emil ihr noch ungläubig nach, dann
begann er zu rennen. Er überholte sie spielend, doch sie blieb dicht
hinter ihm. Die gläserne Feuerschutztür kam immer näher. Emil
beschleunigte nochmal, als ein lautes Klatschen hinter ihm durch den
Flur hallte.
Ein
kurzer Blick zurück verriet ihm, dass ein Buch und einige Blätter
von Frau Merchens Rollwagen herunter gesegelt waren und sie gezwungen
hatten anzuhalten und diese einzusammeln.
Siegessicher
trabte Emil zum Klassenraum, schloss die Tür hinter sich und
realisierte jetzt erst wie absurd die Szene gerade gewesen war. Er
musste sich das Lachen verkneifen und grinste nur über beide Ohren,
als er sich zu Martin an den Tisch setzte. Kurz darauf kam auch Frau
Merchen in den Raum.
„Da
warst du ja nochmal pünktlich“, raunte Martin ihm zu.
Emil
brummte nur, um nicht mit kichern anzufangen. Einmal tief ein- und
ausatmen, dann beruhigte er sich wieder. „Du glaubst nicht, was mir
gerade passiert ist ...“
Der
Gang war voll mit Schülern, die aus dem Gebäude und zum Bus
stürmten. Emil und Martin folgten den kleinen Giftzwergen in
gemäßigtem Tempo.
„Ich
glaub immer noch nicht, dass die Merchen, das getan hat“, meinte
Emil fassungslos.
„Dich
auf dem Gang fast abgezogen hat?“
„Nein,
die hatte keine Chance mit dem Rollwagen, aber dass sie überhaupt
auf diese Idee kommt... ich mein ich bin ihr Schüler und sie ist
eine Lehrerin. Sollte ich da nicht ein wenig Restrespekt vor ihr
haben?“
„Vielleicht
ist sie deine Seherin.“
Emil
blieb abrupt stehen. „Ja, ... vielleicht ist sie meine Seherin.“
„Sag
ich doch.“
„Sagst
du doch ...“, murmelte Emil immer noch geistesabwesend. „Ja ...“
Martin
überging einfach Emils Aufmerksamkeitsverzögerung. „Da fällt mir
ein: Ich hab was im Raum vergessen. Wir sehen uns morgen?“
Erst
jetzt wachte Emil aus seinen Gedanken auf. „Ja, bis morgen!“ Er
sah Martin noch kurz nach, wie dieser im Gang verschwand, dann fing
er an, darüber zu grübeln, was er gerade herausgefunden hatte: Frau
Merchen war seine Seherin. Und was bedeutete das jetzt?
~*~*~*~*~*~
Martin
ging die Treppe zu den oberen Räumen hinauf und nicht zurück in den
Raum in dem sie zuvor Unterricht gehabt hatten. Zielstrebig schritt
er auf eine der Türen zu, es war die Biologiesammlung. Die Tür war
nicht wie sonst verschlossen und er trat ein. Hinter ihm fiel die Tür
ins Schloss.
Er
schritt unbeirrt durch den Raum auf das Mädchen zu, das dort am
Fenster auf dem Tisch saß und ihn erwartete.
„Ich
wusste, dass du kommst.“ Marie hatte mal wieder ihr
Unschuldslächeln aufgesetzt.
„Wie
sollte ich auch anders, wenn ich weiß, dass du wartest?“ Martin
blieb vor ihr stehen.
„Gut,
also ich ...“, fing Marie an, doch Martin unterbrach sie sofort:
„Ich
weiß, was du vorhast.“
„Gott,
immer die gleiche Leier mit euch Sehern! Kannst du nicht wenigstens
so tun, als wüsstest du nicht, was ich sagen werde?“
Martin
zuckte die Schultern. „Ich kann's versuchen.“
„Also“,
fing Marie an und schlug die Beine übereinander, doch Martin fuhr
ihr schon wieder ins Wort:
„Du
hast vor, Emils Quelle endgültig zu verbrauchen.“
„Hör
zu, ich brauche sie und bis jetzt hatten wir beide auch kein Problem
damit. Ich mein, du hast mir sogar den Weg geebnet. Das ist mir nicht
entgangen.“
„Weil
du das bist, was Emil will. Das dachte ich zumindest. Er war wirklich
in dich verknallt.“
„Was
heißt hier war?“
„Ich
bin mir nicht mehr sicher, ob er dich immer noch liebt. Lilian ist
ungewollt eine starke Konkurrenz für dich geworden.“
„Was
hat diese Lilian schon, das ich nicht habe?“, entgegnete Marie
patzig.
„Sie
hat zum Beispiel nicht versucht ihn zu verhexen.“
„Was
hätte ich denn auch anderes tun sollen?“
„Das,
was du auch sonst mit allen anderen tust, wickele ihn um den kleinen
Finger.“
Marie
rollte mit den Augen.
„Das
ist meine einzige Bedingung.“ Martin erhob unmerklich seine Stimme.
„Keine Hexereien mehr! Er muss einwilligen, sonst bekommst du's mit
mir zu tun!“
„Ja, ja. Schon kapiert.“
Marie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch
als sie weiter sprach,
hatte ihre Stimme an
Selbstsicherheit verloren:
„Und du bist nur hier, um mir das zu sagen?“
Martin
verschränkte nachdenklich die Arme. „Und dass ich es vorziehen
würde, wenn du Emil diese Lilian ausreden würdest.“
„Warum
willst du das?“
„Das
fragst du noch? Eine Beziehung mit einer Succubus? Ein Ding der
Unmöglichkeit. Es würde ihn umbringen, aber
ich kann es ihm nicht sagen. Noch glaubt er, ich wüsste von dem
Ganzen nichts. Ich wollte
eigentlich eine neutrale Rolle in
dem Ganzen spielen, bis sich das zwischen dir und Lilian geklärt
hat. Aber da die Dinge
sich geändert haben, bin ich hier.“
„Geklärt?“
Maries Stimme war schwach. Es beunruhigte sie an den Bund mit ihr zu
denken.
„Na
eine von euch beiden wird den Kampf sicher nicht überleben und ich
versuche zu beeinflussen, wer gewinnt.“
Maries
Augen wurden mit einem Mal größer und in ihrer Stimme hörte man
die Aufregung. „Du weißt also, wie der Kampf ausgehen wird?“
Eine
kurze Stille trat ein in der Martin glaubte, Marie würde die Luft
anhalten, nur darauf wartend, dass er ihr antwortete:
„Natürlich.
Ich weiß, wie es ausgehen wird und ich hoffe, dass ich es hiermit
ändern kann.“
„Dann
sag es mir!“
„Nein.“
Martins Antwort hatte etwas endgültiges. „Aber du solltest
aufpassen. Lilian hat nichts zu verlieren.“
Marie
wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, doch auch Martin sagte
darauf nichts mehr. Einige
Zeit sahen sie sich
schweigend an, bis Marie die Augenbrauen hochzog und fragte:
„War
es das jetzt?“
„Ja,
ich glaube das war es soweit. Ich hab noch was zu erledigen.“
Martin machte auf dem Absatz kehrt, bevor er sich noch einmal
umwandte: „Vergiss nicht, Emil wird kein Haar gekrümmt!“
„Wie
sollte ich auch? Du weißt es ja schon vorher, wenn ich es vorhaben
sollte.“
Kommentare
Kommentar veröffentlichen