Eine schläfrige
Stille lag über dem Klassenzimmer. Emil hatte den Kopf auf seine
Hände gestützt und war hauptsächlich damit beschäftigt, vor
Müdigkeit nicht einzuschlalfen.
Vorne an der Tafel
schrieb der Lehrer irgendwelche Zahlen und Formeln an. Für Emil
waren sie jedoch nur wirr und hatten anscheinend irgendwas damit zu
tun, dass die Elektronen mal wieder nach irgendeinem Phänomen nicht
das taten, was man erwarten würde. Zumindest stand „Elektronen“
am oberen Ende der Tafel.
Emil konnte sich
nicht vorstellen, wer es für eine gute Idee gehalten hatte, die
Physikstunde auf Freitagnachmittag zu legen. Nicht einmal, wenn er
wach gewesen wäre, hätte er Lust gehabt zuzuhören. Für ihn gab es
in der Schule kein schlimmeres Fach, als Physik. Auch wenn er sich
nicht sicher war, ob Mathematik nicht doch schlimmer war.
Fantasyhelden hatten diese Probleme nicht. Sie mussten nicht einmal
zur Schule gehen.
Schlaftrunken nahm
Emil die Brille ab und fuhr sich über das Gesicht. Er hätte einfach
nein sagen sollen, als ihn sein Freund 'Legend', den er nur aus World
of Warcraft kannte und der eigentlich Jan hieß, nachts um halb zwei
noch angerufen hatte. „Wir brauchen noch eine Tank für Karazhan“,
hatte Jan gesagt, was so viel hieß, dass Emil unabdingbar für die
Gruppe im Spiel war, die nachts spontan beschlossen hatte, zusammen
ein weiteres Spielziel erreichen zu wollen. Als die Gruppe dann um
fünf Uhr endlich fertig gewesen war, hatte es sich für Emil auch
nicht mehr gelohnt wieder ins Bett zu gehen.
Hinter sich hörte
Emil die Mädchen kichern. Er wusste genau, wer da saß und wagte es
deshalb nicht, sich umzudrehen.
Eine Reihe hinter
ihm saß Marie mit ihren Freundinnen. Wenn er nur an sie dachte, zog
sich in Emil alles zusammen. Marie war unglaublich hübsch. Sie hatte
lange dunkelblonde Haare, große hellblaue Augen, und ein schmales,
zierliches Gesicht. Es war kein Wunder, dass sie neben der Schule
modelte. Sie war nicht besonders groß, aber unglaublich schlank
gebaut und ihre schmalen Lippen kräuselten sich etwas, wenn sie
lächelte. Das sah unglaublich süß aus.
Emil musste sich
nicht umblicken, um das zu wissen. Er mochte Marie schon seit Langem
und natürlich wusste sie nichts davon. Marie war eines der Mädchen,
bei dem Emil wusste, dass er nie eine Chance haben würde. Eigentlich
rechnete er sich bei keinem Mädchen überhaupt Chancen aus.
Erst ein einziges
Mädchen hatte überhaupt einmal Interesse an ihm gezeigt und das war
irgendwann in der Siebten gewesen. Ihr Name war Evelyn gewesen. Sie
hatte immer schwarze Klamotten und viel zu starkes Augen-Make-Up
getragen. Als sie ihm seine Liebe gestanden hatte, hatte Emil nichts
erwidern können. Am nächsten Tag, hatte sie sich dann bereits in
den nächsten verguckt und Emil links liegen gelassen.
Emil war einfach nie
der Typ gewesen, auf den die Mädchen standen.
Er war ein
Brillenträger, der mehr Zeit in der virtuellen Welt verbrachte als
in der Realen und
trug
immer nur
Jeans und das T-Shirt, das oben auf dem
Stapel im Schrank
lag.
Emil setzte seine
Brille wieder auf, als sich seine Klassenkameradin Ina, die links
neben ihm saß, zu ihm hinüber beugte und flüsterte: „Verstehst
du das? Kannst du mir das erklären?“
Sein Blick begegnete
dem eines Mädchens mit rundem Gesicht und kurzen braunen Haaren, die
sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Sie sah ihn mit
großen braunen Augen hinter der schwarzen Nerdbrille an. Emil
verfluchte es, dass sie in Physik neben ihm saß. Sie wusste genau,
dass er genauso wenig davon verstand, wie er selbst. Trotzdem fragte
sie ihn jedes Mal auf Neue. Er war sich mittlerweile sicher, sie
wollte ihn ärgern und ignorierte sie deshalb.
„Ich versteh es
wirklich nicht“, versuchte Ina es erneut, doch Emil blieb dabei so
zu tun, als würde er sie nicht hören.
Dann spürte er, wie
sein anderer Sitznachbar Martin in von der Seite an stupste und nahm
das als Anlass sich ihm, statt Ina, zuzuwenden.
Martin war sein
bester Freund und sein
eingeschworener Leidenskumpan, wenn es um den Unterricht ging.
Denn besonders in solchen langweiligen Unterrichtsstunden, verstand
Martin es Emil aufzuheitern. Er war ein Stück größer als
Emil und hatte kurz geschnittenes braunes Haar. Im Gegensatz zu Emil,
spielte Martin überhaupt keine Computerspiele, was die beiden aber
nicht daran hinderte, befreundet zu sein.
„Ich weiß, dass
du's verstehst...“, raunte Emil Martin zu, doch der begann damit,
etwas auf die Seite von Emils Block zu kritzeln.
„Guck mal. E =
m*c². Kennst du, oder?“
Emil nickte, auch
wenn er nicht wusste, worauf Martin hinaus wollte.
„Wenn wir die
ganze Mathematik mal weglassen, könnte man das auch schreiben: E+m =
c². Und zweimal c ergibt ein Herz.“
„Das ist der
schlechteste Witz den du heute gebracht hast“, versuchte Emil
beiläufig zu sagen, doch er musste dabei breit grinsen.
Emil wusste genau
worauf Martin hinaus wollte. Das E stand für Emil, das M für Marie.
Martin hatte ihn überredet heute Abend mit auf die Oberstufen-Party
zu kommen. Nach seiner Aussage sollte das helfen, damit Emil mit
Marie ins Gespräch kam. Emil glaubte jedoch nicht daran. Für ihn
gab es nichts Schlimmeres als Parties. Außer Physik vielleicht.
Zu allem Übel war
die Party auch noch mit Kostüm und alle aus der Stufe würden
hingehen. Wenn er wenigstens als Magier hingehen dürfte, doch Martin
hatte sich da scheinbar etwas anderes ausgedacht, dass er ihm nicht
verraten wollte.
Emil spürte wie ihn
Ina schmerzhaft in den Rücken piekste. „Was ist denn jetzt?“,
zischte sie von hinten.
Genervt wandte Emil
sich um. „Frag Martin.“
„Nein frag lieber
Thomas!“, entgegnete Martin schnell und zeigte auf einen Jungen am
anderen Ende des Raums, der irritiert aufsah.
„Ich will's aber
von dir hören!“, schmollte Ina.
Emil, wollte gerade
etwas erwidern, als ihn die Pausenklingel unterbrach.
„Schade, jetzt ist
die Stunde schon vorbei“, sagte Emil und packte so schnell er
konnte seinen Block ein. Einen Stift hatte er nicht einmal
herausgeholt.
„Was ist mit heute
Abend?“, fragte Ina hastig, bevor Emil flüchten konnte. „Kommt
ihr beiden zur Party?“
Emil zuckte die
Schultern. „Vielleicht.“
Damit Ina ihn und
Martin nicht noch weiter in das Gespräch verwickeln konnte,
verschwanden die beiden rasch Richtung Tür.
„Gib deine Brille
her!“, sagte Martin und hielt die Hand auf. Sie saßen in Emils
Zimmer. Martin war gegen Abend vorbeigekommen und hatte Emil ein
Kostüm mitgebracht. Leider entsprach das nicht gerade dem, was Emil
sich vorgestellt hatte.
„Aber ohne die bin
ich so gut wie blind!“, entgegnete Emil und versuchte sich an
seiner Brille festzuhalten, obwohl er wusste, wie idiotisch das war.
„Egal.“
„Ohne die Brille
renne ich bestimmt irgendwo gegen“, versuchte Emil zu
argumentieren.
„Dann rennst
du einfach gegen Marie.“
„Ich
sehe darin aus wie ein Volltrottel. Da macht es keinen Unterschied,
ob die Brille trage oder nicht.“
„Grün
steht dir aber.“ Martin musste sich das Grinsen verkneifen.
„Das
rechtfertigt nicht die Tatsache, dass ich ein Frosch bin!“
„Nein,
du bist ein Froschkönig!“, korrigierte ihn Martin.
„Ein
Froschkönig ... du hast was von Märchenprinz gesagt!“
„Der
Froschkönig war auch ein Prinz! Außerdem gab
es bei dem Kostüm eine Maske dazu.“
Emil seufzte. „Muss
das sein?“
„Ja. Das muss.
Marie wird das Kostüm bestimmt toll finden. Mädchen stehen auf so
etwas.“
Auch wenn Emil nicht
davon überzeugt war, gab er Martin widerwillig seine Brille und
tauschte sie gegen die Maske. Ein bisschen fühlte es sich mit der
Maske auf der Nase an, als wäre er ein Superheld.
Emil stand auf und
ging zum Spiegel an seinem Kleiderschrank. Normalerweise benutzte er
diesen nie und hatte sich immer gefragt, wozu ein Kleiderschrank
überhaupt einen Spiegel hatte, doch heute war er ganz froh, dass der
Spiegel dort war. Er ging ganz nah heran, um sein Gesicht überhaupt
erkennen zu können und rückte dann die Krone auf seinem Kopf
zurecht.
Es sah lächerlich
aus, fand Emil. Ohne Brille kam ihm sein Gesicht unglaublich fremd
vor. Auch das dunkelgrüne Jackett machte die Rüschenbluse nicht
besser.
Martin hatte da mit
seinem Kostüm die bessere Wahl getroffen. Er hatte sich als Pirat
verkleidet, was deutlich cooler war, als ein Froschkönig zu sein.
Anders als Emil ging
er aber auch nicht auf die Party, um mit einem Mädchen ins Gespräch
zu kommen. Martin war seit über einem Jahr mit Nicole zusammen. Die
Beiden waren unzertrennlich gewesen, bis sie letzten Herbst für ein
Austauschjahr nach Amerika gegangen war. Seitdem erzählte Martin
kaum noch von ihr. Doch Emil war sich sicher, dass sie noch zusammen
waren. Martin war einfach nicht der Typ der viel von seiner Freundin
erzählte. Generell erzählte er so gut wie nie von sich selbst.
„Wollen wir los?“,
fragte Martin und Emil wandte sich vom Spiegel ab. „Du willst doch
nicht zu spät zu deiner Aphrodite kommen?“
„Aphrodite?“,
wiederholte Emil ungläubig. „Das klingt übertrieben...“
„Dann halt zu
deiner Angebeteten“, korrigierte Martin sich selbst und schob Emil
aus der Tür.
Emil seufzte. Jetzt
hatte er keine Wahl mehr. Seine Verabredungen online hatte er für
heute Abend bereits abgesagt.
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