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Eine lange Nacht

Ungebremst peitschte der Wind über das Bahnhofsgleis und trieb den Regen unter das schützende Dach. Schneeflocken hatten sich bereits in die Nässe hineingemischt. Als die Durchsage kam, sah sie von ihrem Handy auf:
„Aufgrund von Betriebsstörungen fällt der Zug heute aus. Bitte warten sie auf weitere Durchsagen. Ich wiederhole: ...“
Sie seufzte. Damit hätte sie rechnen können. Der Zug hätte bereits vor einer viertel Stunde fahren sollen und ob der nächste fahren würde war noch unklar. Sie war jetzt bereits seit einer Stunde unterwegs, seitdem sie das Kino mit ihren Freunden verlassen hatte.  Es war ein Fehler zu versuchen hier umzusteigen. Hier kannte sie sich nicht mehr aus und alle ihre Freunde waren sicher bereits zu Hause. Es brachte nichts noch länger auf dem Gleis zu stehen.
Die Treppe führte hinunter in den schmalen Gang der die Gleise verband. Nur ein einzelner Fahrkartenautomat stand hier.
Der nächste Zug würde frühstens in einer viertel Stunde kommen und ihr Magen knurrte bereits. Vielleicht gab es ja irgendwo in der Nähe eine Imbissbude oder zumindest einen Kiosk an dem sie etwas Süßes und einen Kaffee bekam. So trat sie, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen  und die Hände tief in den Taschen, hinaus aus dem Bahnhof auf die unbekannte Straße. Ein Blick nach links und rechts verriet ihr, dass zumindest in nächster Nähe nichts von beidem lag. Sie entschied die Straße nach links hinunter zu gehen, in der Hoffnung, dass sie dort am ehesten etwas finden würde.

Doch auch zweit Straßen weiter, wo sie bereits komplett durchnässt war, fand sie nichts außer Wohnhäuser und schwaches, oranges Natriumlicht, dass die Straße beleuchtete. Wie spät war es mittlerweile eigentlich?
Sie holte ihr Handy heraus, um nach der Uhrzeit zu sehen und stellte fest, dass sie rasch umkehren musste. Rasch machte sie auf dem Absatz kehrt und kam gerade noch rechtzeitig am Bahnhof an, wo die blaue Schrifttafel auf dem Gleis ihr bereits ankündigte, dass heute kein Zug mehr fahren würde.  Der Bahnsteig war deshalb bereits komplett verlassen.
Eine Mischung aus Ärger und Enttäuschung stieg in ihr auf. Das war typisch. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Wen konnte sie anrufen?
Sie versuchte es zunächst bei ihrem Bruder, doch dessen Handy war aus. Danach bei ihrem Vater, der wie üblich nicht dran ging, weil das Handy sonst wo rumlag. Vielleicht sollte sie einfach ein Taxi rufen? Aber sie kannte keine Nummer von hier. Sie sollte einfach Zuhause anrufen, auch wenn sie dadurch ihre Mutter weckte. Sie wollte gerade die Nummer wählen, als das Handy laut piepste und der Bildschirm augenblicklich schwarz wurde. Der Akku war leer. Das konnte doch nicht wahr sein.
Sie warf einen Blick aus dem Bahnhof hinaus, wo weiterhin der Sturm tobte. Das Einzige, dass sie tun konnte, war eine Telefonzelle zu finden. Oder sonst irgendwas. Dafür musste sie raus. Zurück in die nassen Winde. Das wollte sie nicht, aber was blieb ihr anderes übrig?
Sie hatte das Gefühl, dass das Wetter draußen schlimmer geworden war. Der Regen sickerte ihr bereits unter die Jacke und ihre Jeans klebte an ihren Beinen.
Diesmal ging sie die Straße rechts hinunter. Doch weit und breit war kein öffentliches Telefon zu entdecken. Scheinbar war es klar, dass heute jeder ein Handy hatte. Nur ihres war dummerweise leer.
Sie könnte nach Hause laufen. Von hier aus waren es vielleicht nur noch eineinhalb Stunden. Wenn sie wüsste, wo sie war und in welche Richtung sie musste. Keine Ecke an der sie vorbei kam, kam ihr nur im entferntesten bekannt vor.
Sie war das letzte Mal mit neun hier gewesen. Eine alte Schulfreundin von ihr hatte hier gewohnt und ihre Eltern hatten sie oft hergebracht. Nur einmal war sie mit dem Bus hergekommen. Aber daran erinnerte sie sich nicht mehr.
Es musste doch eine andere Möglichkeit geben. Irgendetwas musste doch noch offen haben. Ein Kiosk, ein Hotel, ein Restaurant. Doch sie passierte nur dunkle Schaufenster. Es war alles wie ausgestorben.
Sie lief bereits zwanzig Minuten in der Gegend herum, als sie die das Zentrum gefunden hatte. Hier hatte zwar ebenfalls nichts mehr geöffnet. Aber sie fand eine Anzeigetafel am vergleichsweise hell beleuchteten Bushof. Die ihr aber leider nicht viel Neues verriet. Sie wusste, dass sie immer noch in der selben Stadt war und dass die Busse ab 5 Uhr morgens wieder fuhren. Auch zu ihr nach Hause. Aber einen Stadtplan suche sie vergebens.
Sollte sie etwa jetzt über fünf Stunden hier rumstehen? Ihre Finger verkrampften sich. Sie zitterte am ganzen Körper und beobachtete ihren weißen Atem. In ihrem Kopf wog sie Möglichkeiten ab und beschloss es sich als Notfalllösung aufzuheben.
Wenn sie ihren Eltern nicht Bescheid sagte, dass es ihr gut ging, würden sie sich sicher Sorgen machen. Würden sie die Polizei rufen? Doch so panisch waren sie nicht.
Das war der Geistesblitz, auf den sie gewartet hatte. Es musste irgendwo eine Polizei geben. Oder zumindest doch eine Polizeistreife die hier vorbei kam. Wenigstens einmal die Nacht. Sie musste nur warten.
Frierend setzte sie sich auf die Bank im Bushäuschen und beobachtete, wie die Straßenlaternen flackerten. Irgendwo in der Ferne hörte sie ein Auto.
Es war merkwürdig. Hier fehlten so viele Geräusche. Es war, als würde hier nichts mehr leben. Alle Fenster der umliegenden Häuser waren ausnahmslos dunkel. Selbst kein Tier verirrte sich bei dem Sturm auf die Straße. Nur der Wind rauschte einsam in den Baumkronen.
Sie drückte sich näher an die zugige Glaswand, als eine besonders heftige Böe kam. Wie lange saß sie schon hier?
Langsam richtete sie sich auf und suchte nach einer Uhr. Innerlich jubilierte sie schon, als sie die große Uhr keine 5 Meter weit erblickte, bis sie feststellte, dass diese um neun Uhr zehn stehen geblieben war.
So begann sie die Sekunden zu zählen, doch das hielt sie nicht lange durch. Nichts passierte und langsam wurde es zu kalt, um ihren Gedanken nachzuhängen. In ihrem Kopf wiederholte sich alles. Das machte sie verrückt. Sie musste etwas tun.
Sie stand auf und bereute es sogleich, denn die Eiseskälte schien dadurch nur schlimmer zu werden. Es konnte nicht sein, dass es hier nichts gab, dass ihr zumindest etwas mehr Schutz vor der Kälte bieten konnte.
Sie verließ den Bushof und beschloss die winzige Einkaufsstraße hinunter zu laufen. Einige der Schaufenster waren schwach beleuchtet. In einigen brannte Weihnachtsdeko. Sie war einmal hier gewesen. Daran erinnerte sie sich jetzt, als sie vor einer mit Packpapier zugeklebten Eisdiele stand. Sie machte gerade Winterpause. Aber es gab sie noch. Sie erkannte sie an dem pinken Schild über der Tür.
Die Erinnerung ließ sie schmunzeln. Sie war damals mit ihrer Freundin mit zwei Mark in der Tasche los gerannt und sie hatten sich hier Eis geholt. Einen riesigen Eisbecher, den sie sich geteilt hatten. Zumindest war er in ihrer Erinnerung riesig gewesen.
Das hieß sie musste auch schon einmal diese Straße entlang gegangen sein. Warum erinnerte sie sich dann an sonst nichts mehr? Gedankenverloren wandte sie ihren Blick ab und ging weiter.
Als die Straße endete wurden auch die Straßenlaternen spärlicher und sie erkannte, dass hinter der Kreuzung der Weg direkt in einen kleinen Park führte. Ihre Freundin hatte damals neben einem Park gewohnt. Ihr Herz machte einen Sprung. Konnte es sein, dass dies der gleiche Park gewesen war? Ein Versuch war es wert. Vielleicht erkannte sie noch andere Stellen, wenn sie sie sah?
Auch wenn der Park bedrohlicher als die Straße auf sie wirkte, beschloss sie den Weg dadurch zu nehmen. Sie war damals zur Eisdiele durch den Park gekommen. Anders würde sie den Weg nicht wiederfinden.
Das Rauschen der Bäume und Sträucher erfüllte sofort ihre Ohren. Das Licht der Straße schien so weit entfernt. Es fühlte sich an, als gäbe es in diesem Moment nur sie und den Park.
Merkwürdigerweise mochte sie den Gedanken und es löste in ihr ein Gefühl von Geborgenheit aus. Was sollte schon passieren, wenn sie ganz alleine hier war? Die Bäume schützten sie größtenteils vorm Regen. Sollte sie das Haus nicht finden, überlegte sie die Nacht hier zu verbringen.
Doch dann stand sie vor einer Kreuzung, wo der Weg eine kleine Treppe hinab führte.
Sie erinnerte sich an die Treppe. Sie hatten oft hier gespielt und gewettet, wer sich traute von einer höheren Stufe bis zum Ende zu springen. Nur einmal hatte sie sich dabei das Knie aufgeschürft.
Das war der richtige Weg. Sie merkte überhaupt nicht, wie sie zu rennen anfing und die Bäume schnell hinter sich ließ. Dann stand sie wieder auf der orange erleuchteten Straße. Direkt vor dem gelbe verputzen Haus, dass sich in den letzten Jahren nicht verändert hatte. Zumindest glaubte sie das. Denn klar war ihre Erinnerung nicht.
Ob ihre Freundin überhaupt noch hier wohnte? Sie sah nach oben. In einem der Fenster im dritten Stock brannte Licht. Das ermutigte sie.
Sie trat zur Tür und erleichtert stelle sie fest, dass der Nachname immer noch auf dem Klingelschild stand. Dennoch zögerte sie. Sollte sie wirklich einfach so klingeln? Wie würde es denn wirken, wenn sie nach über zehn Jahren plötzlich vor der Tür stand?
Die alternative war, weiter hier draußen zu stehen. Sie schloss die Augen und klingelte einfach.
Für mehrere Sekunden hielt sie den Atem an. Vielleicht würde niemand öffnen? Wer klingelte schon um diese Uhrzeit?
Dann hörte sie Schritte aus dem Treppenhaus. Eine Freisprechanlage besaß das Haus nicht. Und dann öffnete sich nach einigem Geraschel des Schlosses endlich die Tür.
Sie hätte das Mädchen, das dahinter stand beinahe nicht erkannt und auch das Mädchen starrte zunächst erstaunt zurück.
Nach kurzer Stille war es beiden klar, wen sie da vor sich hatten und sie begrüßten sich zunächst zögernd, dann überwog die Freunde und das Mädchen zog sie rasch ins Haus, damit sie die nassen Sachen loswerden konnte.
In der Wohnung war es warm und es gab heißen Tee. Ein kurzer Anruf Zuhause beruhigte ihre Eltern und das Angebot die Nacht hierzubleiben nahm sie dankend an.
Danach redeten sie noch lange. Es gab nach der langen Zeit so viel zu erzählen. Beide wussten nicht, warum der Kontakt abgebrochen war, nur weil sie auf verschiedene Schulen gegangen waren. Erst als es bereits dämmerte, beschlossen die Mädchen zu schlafen.
Der Sturm hatte in den Morgenstunden aufgehört. Doch das hatten sie beide nicht gemerkt, so tief waren sie in das Gespräch vertieft gewesen.
So merkten sie auch nicht mehr, wie die Morgensonne die nassen Straßen vor dem Fenster erhellt und die Kälte der Nacht zumindest für einige Stunden vertrieb.

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