Ernste Angelegenheiten
Die letzte halbe Stunde hatten Emil und
Lilian damit herumgebracht in neuerer Literatur herumzublättern und
sich Bilder anzusehen, weil sie beide zu faul waren den Text dazu zu
lesen. Die Artikel thematisierten meist Strukturen, Regelen,
allgemeine Magie, sowie magische Gegenstände und Vorgehensweisen,
aber die Bilder reichten Emil vorerst auch erstmal. Zum einen oder
anderen Bild erklärt Lilian ihm etwas mehr, wenn sie es selbst
wusste, und meinte, dass es Emil interessieren würde. So erzählte
sie Emil zum Beispiel, dass jeder Seher eine bestimmte Gruppe an
magischen Wesen überwachen muss und sich mit Hilfe von magischen
Amuletten auf bestimmte Personen spezialisieren konnte. Ohnehin gab
es unglaublich viele magische Utensilien, von denen sie selbst nicht
einmal ein Drittel kannte.
Sie waren gerade bei einem Artikel über
Kerzenrituale, als Cornelius sich ihrem Tisch näherte. Lilian
richtete sich auf und sah das blonde Mädchen erwartungsvoll an:
„Und? Hast du was gefunden?“
„Kommst du kurz mit rüber?“
Cornelius nickte zu den hinteren Reihen hinüber. Während sie
gewartet hatten, hatte es zweimal an der Tür geklopft und nun
geisterten drei weitere Personen in den Reihen herum. Sie waren nicht
mehr allein.
Die Geheimniskrämerei hinterließ ein
unangenehmes Gefühl bei Lilian, doch als sie Emil einen Blick zuwarf
versicherte er ihr lächelnd: „Ich kann warten.“
Das bestärkte sie und sie folgte
Cornelius zurück zu seinem Pult.
Darauf lagen nur noch seine
Lernutensilien, das Buch hatte er bereits verschwinden lassen.
„Also, ich habe eine gute und eine
schlechte Nachricht für dich“, begann Cornelius mit ruhiger
Stimme.
Lilian atmete tief durch und fuhr mit
gesenkter Stimme fort: „Bitte die Gute zuerst.“
Cornelius lächelte. „Es ist einfach
den Bund zu lösen. Da du ihn initiiert hast, kannst du ihn auch
jeder Zeit wieder aufheben. Das ist überhaupt kein Problem.“
„Aber...?“
„Es wird dich sehr viel Kraft kosten;
und mit sehr viel meine ich wirklich viel. Praktisch deine ganze
angesammelte Lebensenergie.“ Lilian hatte das Gefühl, dass in
seinen Augen der gleiche Ausdruck lag, wie in Sonias vor einigen
Tagen.
„Das heißt ich wäre in diesem
Moment extrem verwundbar...“, sprach Lilian langsam ihren Gedanken
aus. Sie hatte schlimmeres erwartet. „Aber wenn ich Marie loswerden
will...“
„Ich wusste, dass du das sagen
würdest. Aber das kannst du dir einfach nicht leisten!“
„Warum?“
„Du hast dich in zu viele
Angelegenheiten eingemischt, die dich nichts angingen.“
„Es war jedes Mal richtig sich
einzumischen!“ Lilian hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ihre
Stimme wieder zu laut geworden war. Erst als sie Cornelius' Blick
auffing, verstummte sie augenblicklich. „Ich werde einen Weg
finden“, fügte sie flüsternd hinzu.
„Und dann hast du auch noch ihn.“
Cornelius nickte nach rechts und Lilian folgte seinem Blick. In der
Richtung saß Emil immer noch am Tisch saß und starrte Löcher in
die Gegend; vielleicht war er einfach nur gelangweilt war oder viel
zu fasziniert.
„Er ist genauso sterblich wie ich“,
fuhr Cornelius leise fort. „Dazu noch ohne magische Fähigkeiten.
Du lieferst ihn ans Messer, wenn du schwächelst. Wir sind
sterblicher als du es jemals sein wirst. Wenn du dich einmischt,
kommst du heil davon, weil du auf deine Kräfte vertraust. Aber die
hast du dann nicht mehr.“
„Das weiß ich selbst.“ Lilian
merkte wie ihr ein Seufzer entfuhr. Emil hatte es nicht verdient da
mit herein gezogen zu werden, aber genau das tat sie gerade. Sie
hätte vielleicht doch auf Martin hören sollen. „Ich muss diesen
blöden Bund aufrecht erhalten. Gerade jetzt...“
„Er könnte dir das Leben retten.“
„Verdammt!“, brach es schließlich
aus Lilian heraus. „Warum ist das nur so kompliziert?“ Diesmal
hatte sie beinahe geschrieben, sodass sogar Emil zu den beiden
hinüber sah.
Lilian zuckte sofort zusammen und sah
zu Cornelius hinüber der ihr zum Glück diesmal keinen bösen Blick
zu warf. Das beruhigte sie.
„Danke für Übersetzen“, flüsterte
Lilian. „Ich werde deinen Rat berücksichtigen.“ Sie versuchte zu
lächeln, doch sie glaubte Cornelius würde merken, dass es nicht
echt war. „Gibst du mir jetzt die Übersetzung?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
Cornelius lachte auf. „Ich weiß, was
du tust, wenn ich sie dir gebe.“
Wie Recht er doch hatte. Sie würde es
trotzdem versuchen den Bund zu lösen, im Zweifel wäre es ihr egal,
was mit ihr dabei passierte.
„Kann ich sonst irgendetwas für dich
tun?“, unterbrach Cornelius ihre Gedanken. Sie musste es aufgeben.
Heute würde sie nichts aus ihm heraus bekommen.
Lilian schüttelte den Kopf. „Sonia
bitte nichts davon erzählen. Auf keinen Fall!“
„Kein Problem. Wer bist du?“
Das lies Lilian diesmal wirklich
lachen. „Danke nochmal und viel Erfolg beim Lernen.“
„Bitte und mach keine Dummheiten.“
„Wie dich zu retten?“, feixte
Lilian.
„Wie mich zu retten.“
Als Lilian zurück kam erwartete sie
Emil bereits erwartungsvoll: „Was hat er gesagt?“
„Dass es möglich ist... sogar recht
einfach, aber das ich es nicht machen soll.“
„Warum nicht?“
Lilian lächelte. Die Reaktion von Emil
hatte sie erwartet. „Weil es recht gefährlich für mich sein
könnte und ich damit deinen Schutz aufs Spiel setze.“
„Du kannst aber doch nicht dein Leben
nach mir richten.“
„Ist schon in Ordnung. Außerdem
fühlt es sich schon ziemlich gut an, unbesiegbar zu sein.“ Sie
setzte sich auf einen Stuhl und streckte sich.
„Ich weiß gar nicht warum du das
überhaupt loswerden willst?“
„Weil Marie alles über mich weiß.
Sie weiß theoretisch auch, dass wir gerade hier sind.“
„Meinst du sie wird das
weitererzählen?“ Emil sah sie besorgt an.
Lilian schüttelte lächelnd den Kopf.
Emil lernte doch schneller, als sie dachte. „Ihre magischen
Fähigkeiten sind nicht stark genug, um genau lokalisieren zu können.
Sie könnte es ahnen, aber nicht beweisen. Aber sie weiß dass wir
momentan zusammen sind und dass ich vielleicht etwas im Schilde
führe.“
Erst jetzt fiel ihr auf, wo sie beide
saßen und schlagartig stand sie auf. „Wir sollten uns hier nicht
länger als nötig aufhalten.“ Sie versuchte ihren plötzlichen
Sinneswandel mit einem Lächeln bei Emil wieder gut zu machen. „Gehen
wir lieber zu mir.“
Er nickte und stand ebenfalls auf.
Zunächst konnte er seinen Blick nicht von der Einrichtung lösen,
doch schl<ießlich schaffte er es. Im Hinausgehen nahm Emil ihre
Hand und Lilian umschloss diese irritiert. Es erstaunte sie, dass er
es von sich aus tat und noch erstaunlicher war es, dass sie wirklich
zu ihr gingen. Sie hoffte, dass es nicht schwierig werden würde
Emils Anwesenheit zu erklären. Bis jetzt hatte sie bei ihren Eltern
nur angedeutete, dass sie jetzt einen Freund hatte. Was Emil wohl zu
ihrem Zimmer sagen würde?
„Du musst sagen, dass du mein Zimmer
schön findest!“, sagte Lilian lächelnd.
„Dein Zimmer ist schön“,
antwortete ihr Emil prompt.
„Nicht jetzt! Gleich, wenn du's
siehst.“
„Warum sagst du das nicht?“, fragte
Emil irritiert und lachte.
„Das ist doch klar!“ Lilian knuffte
Emil in die Seite. „Dann sagst du es gleich eben nochmal.“
Was Emil dann auch brav tat, als sie
bei ihr waren.
Am nächsten Morgen wachte Emil quer
liegend im Bett auf, mit Lilian, die es sich auf seiner Brust bequem
gemacht hatte und gerade den Angriff startete ihn wie ein Kraken auch
mit Händen und Füßen in ihren Griff zu nehmen. Ihr Körper war
warm und ihr Atem ruhig.
Es war in diesem Moment überhaupt
nicht vorstellbar, dass dieses Mädchen ein gefährlicher Dämon war.
Emil versuchte sich vorsichtig aus
ihren Griff zu lösen, was ihm aber nicht gelang, weil sie ihn nur
noch fester umwickelt hielt. Und so beschloss er einfach liegen zu
bleiben. Vorsichtig schaffte er es zumindest einen Arm
freizubekommen.
Lilians Haar war weich und lag
ausnahmsweise nicht in seinem Gesicht herum, was er sehr zu schätzen
wusste. Sie war ihm so nah, doch wenn er daran dachte, dass sie
jemand ganz anderes war, als er, schien sie ihm gleichzeitig wieder
so fremd. Er sagte zwar immer, dass es ihm nichts ausmachte, doch
nichts zu wissen und nichts zu können, fühlte sich doch irgendwie
falsch an. Das hatte der letzte Abend ihm bewiesen.
Er lag noch eine knappe halbe Stunde in
Gedanken da, als Lilian wach wurde und begann ihn auf andere Art
anzugreifen. Diesmal mit mehr Liebe.
Eine weitere halbe Stunde später saßen
sie beim Frühstück. Lilians Eltern waren bereits bei der Arbeit.
Emil hatte ihre Eltern nur kurz kennen lernen können, da er und
Lilian gestern erst so spät hierher gekommen waren. Sie schienen
sehr nett zu sein und gleichzeitig überrascht, dass ihre Tochter
einen Jungen mit nach Hause brachte. Wobei hier das merkwürdige beim
Jungen lag, nicht bei dem nach Hause.
Lilian hatte ihn dann heute morgen
gefragt, ob er Pfannkuchen mag. Emils Augen hatten daraufhin
angefangen zu leuchten. „Pfannkuchen? Mit Sirup und Zimt und
Zucker?“
„Zum Beispiel“ Lilian hatte
gegrinst und hatte ihn dann an der Hand mit in die Küche genommen.
Jetzt stand sie am Herd und wendete fachmännisch die Pfannkuchen.
„Welchen Tag haben wir heute
eigentlich?“, fragte Emil noch schlaftrunken. Auch wenn er schon so
lange 'wach' war konnte er noch nicht besonders klar denken.
„Samstag. Gestern war Freitag. Du
hattest Schule. Vielleicht versuchst du es zu verdrängen, aber
gestern hattet ihr Lichtspektren in Physik.“
Das hatte Emil wirklich verdrängt.
„Kannst du eigentlich Physik?“
„Schon. Ich hab's schließlich im
Abi“, antwortete Lilian als wäre es das selbstverständlichste der
Welt.
„Physik?“, fragte Emil nach, als
hätte er sie nicht deutlich verstanden.
„Ja, findest du das komisch für ein
Mädchen? Ich bin die einzige in meinem Kurs.“
Schnell schüttelte Emil den Kopf.
„Nicht für ein Mädchen. Nur, dass ich das generell nicht
nachvollziehen kann, wie man Physik freiwillig schreiben kann.“
„Sagtest du nicht mal, du hast Physik
auch schriftlich?“
„Unfreiwillig...“, murmelte Emil.
„Hab den Zettel zu spät abgeben...“
Lilian lachte auf und legte den
Pfannenwender zur Seite. Sie kam zu ihm hinüber und küsste ihn auf
die Wange. „Du bist süß.“
Emil verstand zwar nicht, was daran süß
war, nahm aber hin, dass es ein Kompliment gewesen sein sollte.
„Ich weiß nicht“, sprach Lilian
weiter, als sie wieder beim Herd war. „Aber mir macht Physik
unglaublich viel Spaß. Ich überlege sogar es zu studieren.“
„Wenn dir das Spaß macht, solltest
du das machen.“
„Aber Chemie macht genauso viel
Spaß.“
Emil brummte darauf nur.
„Was möchtest du denn mal
studieren?“ Lilian war gerade fertig geworden und kam mit dem
Teller voller Pfannkuchen zurück zum Tisch.
„Weiß nicht. Vielleicht Medizin,
oder Chemie.“
„Na du hast ja auch noch ein Jahr
Zeit dich zu entscheiden. Ich sollte mir langsam mal Gedanken
machen.“
„Willst du für dein Studium
wegziehen?“, fragte Emil. Er hatte sich vorher darüber noch
überhaupt keine Gedanken gemacht, doch es war nur logisch, dass
Lilian wenn sie studierte nicht hier blieb.
„Wahrscheinlich. Vielleicht. Ach, ich
habe keine Ahnung.“ Sie stapfte zum Schrank und holte Sirup, Honig
und Zucker heraus.
Sie musste auf dem Rückweg Emils Blick
aufgefangen haben, denn sie fügte lächelnd hinzu: „Keine Sorge,
ich werde trotzdem dafür Sorgen, dass dir nichts passiert.“
„Der Angriff letztens galt mir,
oder?“
Lilian hielt in ihrer Bewegung inne.
„Wenn meine Quelle so wichtig ist,
wäre es doch sinnvoll mich lebend zu bekommen. Und nicht mich zu
töten? Warum also der Angriff?“ Emil sah zu ihr auf. Die Frage
hatte schon den ganzen Morgen in seinem Kopf gebrannt und es tat gut
sie auszusprechen.
„Ich weiß es nicht.“ Auch Lilians
Miene wurde nun ernst. „Ich kann es mir genauso wenig erklären wie
du. Aber hast du keine Angst?“
Emil schüttelte den Kopf. „Nein, ich
bin scheinbar von den ganzen Fantasybüchern zu sehr abgehärtet.“
„Wieso? Haben die dich auch
angegriffen?“, scherzte Lilian mit einem Lächeln auf den Lippen,
das die ernste Stimmung sofort vertrieb. Emil erwiderte es.
„Ja, mit ihren scharfen Zähnen und
einmal hat mich eins versucht mit dem Lesezeichen zu erwürgen.“
„Die Stadt der träumenden Bücher.“
„Wie bitte?“
„Das Buch, das du gerade zitiert
hast.“ Lilian grinste stolz, dass sie es erkannt hatte.
„Stimmt. Hast du es gelesen?“
„Dreimal sogar.“
Auf einmal sprudelten alle Bücher aus
Emils Mund, die er mochte und erstaunlicher Weise kannte Lilian die
meisten davon.
So verbrachten sie das Frühstück
damit über Bücher zu reden anstatt über die doch sehr betrübenden
Tatsache, dass jemand versuchte Emil umzubringen. Es war für einen
Moment vollkommen vergessen.
Die Welt der Geschichten war Emil
deutlich sympathischer als die reale, obwohl beide Welten gerade
dabei waren zu verwischen, sodass er Traum und Wirklichkeit noch
unterscheiden konnte. Aber das wichtigste war, dass Lilian bei ihm
war. Dieses hübsche Mädchen, in derer Augen eine unvorstellbare
Kraft lag.
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