Es ist zu spät
Noch
überlegte Emil, wie er hierher gekommen war. Seine Arme waren um
Maries zarten Oberkörper gelegt und ihre Füße wippten zur Melodie
des Liedes.
Das
Letzte an das er sich erinnerte, war, dass Marie an seiner Schulter
gelegen hatte. Ihre
zierlichen Finger umschlossen
seine Hand. Sie
waren
etwas kalt, aber dass
störte Emil nicht.
Denn ihr
Oberkörper war warm und er spürte
ihren Atem.
Aber
wie wieso war dies so?
Warum stand er plötzlich und saß nicht mehr auf dem Sofa? Er hatte
doch nur ein Glas Wein getrunken. Oder waren es mehr gewesen? Er
erinnerte sich an nichts mehr.
Nun,
war das nicht eigentlich egal? Marie lag in seinen Armen und sein
Herz pochte ihm bis zum Hals.
Dann
sah Marie auf und ihr
Blick ließ Emil direkt alle Zweifel vergessen. Sie legte die Hände
auf seine Schultern und ging auf die Zehenspitzen. Ihr Gesicht war
seinem so nahe, dass ihre Nasenspitze seine Wange berührte, als sich
ihre Lippen auf seine legten.
Emil
glaubte seine Brust würde zerspringen, so sehr raste sein Herz.
Seine Beine wurden weich wie Butter.
Der
Kuss dauerte nur einige Sekunden, doch für Emil war es unendlich
lang. Nur langsam öffnete er wieder die Augen und sah in ihre.
„Emil?“,
hauchte sie mit dünner Stimme. „Ich habe eine Bitte.“
Emil
wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte und sah sie einfach nur
an.
„Ich
brauche etwas von dir.“ Ihre Hand fuhr sanft über seine Schulter.
„Ich brauche deine Quelle.“
So
schön ihre Augen immer noch funkelten, das Wort Quelle ließ Emil
aufhorchen.
„Quelle?“,
fragte er verwundert. Was
meinte sie? Der Nebel um ihm herum war schlagartig verschwunden. Sie
war immer noch wunderschön, doch etwas stimmte nicht.
„Nur
ein kleines bisschen“, säuselte Marie weiter und
fuhr mit der Hand über seine Wange,
doch Emil war von ihrem Zauber befreit.Er
hielt ihre Hand fest. Es passte alles nicht zusammen. Maries Worte
ergaben keinen Sinn. Auch wenn Emil sich wünschte, dass das hier
wahr war. Dass Marie ihm wirklich so nahe war. Er wusste, dass es
nicht sein konnte. Für einen Moment überlegte er, ob es ihm nicht
egal sein sollte. Denn es gefiel ihm. Marie so nah bei sich zu
wissen, war mehr als er sich je erträumt hatte. Doch dann
durchschnitt eine Stimme die Luft:
„Halt!“
Emil
ließ Maries Hand los
und sah verwirrt auf. In der gegenüberliegenden Tür
erkannte er ein
Mädchen in einem durchnässten schwarzen Kleid. In ihrer Hand trug
sie einen langen Gegenstand, den Emil auf die Entfernung trotz
Kontaktlinsen nicht erkennen konnte. Ihr Haar war dunkel und ihre
Augen leuchteten grün. Emil
wusste sofort, wer es war.
„Lilian?“
„Du
kommst zu spät“, rief Marie und
drehte sich zu Lilian um.
„Emil hat bereits den Packt besiegelt.“
„Aber
ich habe doch gar nicht ...“, wollte Emil ihr sofort widersprechen,
doch sie brachte ihn mit einem Finger auf seinen Lippen zum
Schweigen.
„Ich
kenne die Spielregeln“, sagte Lilian. „Und das sind meine.“ Sie
legte den Gegenstand auf den Boden vor sich und stieß ihn mit dem
Fuß an, sodass er zu Emil und Marie hinüber schlitterte.
Erst
als es vor ihm an Schwung verlor und reglos auf dem Boden liegen
blieb, erkannte Emil, dass es ein Schwert war. Der Griff war mit
schwarzem Leder überzogen und von dem Schaft glitzerten ihm Runen
entgegen.
Marie
zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. „Du bringst dein Todesurteil
direkt mit?“
Emil
erkannte Lilians Gesicht nicht, aber ihre Stimme war herausfordernd:
„Nur du und ich,
Violetta.“
„Ich
hasse diese Regel mit den Namen!“, stieß Marie entnervt aus, als
sie das Schwert mühelos
vom Boden fischte.
„Dann
lass es beginnen“, rief Lilian und brachte sich in
Angriffsposition.
Bevor
Emil sich versah, war Marie vorgestürmt und Lilian ihrem Angriff
ausgewichen. Er hatte nie gedacht, dass Marie sich so bewegen konnte,
geschweige denn mit einem langen
Schwert umgehen konnte. Es
hätte viel zu schwer für sie sein müssen, doch sie führte es, als
wäre es federleicht.
Trotz
der schnellen Schläge konnte Lilian blitzschnell ausweichen. Es
war das erste Mal, dass Emil Lilians Dämonenkräfte sah.
~*~*~*~*~*~
„Das
gibt’s doch gar nicht!“, meckerte Sonia, als sie im strömenden
Regen vor dem Fährenschild standen, das alle Fahrten über den Tag
darstellte. Die letzte Fähre war um 19 Uhr gefahren, vor über einer
Stunde. „Öffentlicher Fährverkehr ist auch nicht deren Stärke
hier!“
„Das
hättest du aber auch ahnen können“, warf Martin ein, als ihn
Sonia unterbrach:
„Wie
dringend ist es eigentlich?“
Martin
warf daraufhin einen Blick auf die Uhr. „Es ist 20:31.“ Er dachte
kurz darüber nach. „Wir sind zu spät.“
„Das
kann doch nicht dein Ernst sein! Konntest du das nicht vorher
sagen?!“, blaffte Sonia ihn an und Martin hielt unschuldig die
Hände vor sich:
„Dann
wären wir immer noch zu spät gewesen.“
Entnervt
stieß Sonia die Luft aus und langte nach ihrer Jacke, um sie von
ihren Schultern zu streifen, dann begann sie die Knöpfe ihrer Bluse
zu öffnen.
„Was
tust du?“, fragte Ina verwirrt.
„Ich
schwimme!“, entgegnete Sonia.
„Aber
siehst du die hohen
Wellen nicht. Das ist sicher eine Sturmflut!“
Ina warf einen besorgten Blick auf das unruhige Wasser, das im
heftigen Wind Wellen schlug. Sie spürte die Nervosität, die in
Sonia aufstieg und das beunruhigte sie.
„Ach,
das ist keine Sturmflut. Da
hätte der Wetterbericht vor gewarnt“,
sagte Sonia noch, bevor sie ihren Rock abstreifte und bereits mit
Anlauf ins Wasser sprang.
Während
Ina noch versuchte ihren Arm zu packen, machte Martin keinerlei
Anstalten sie in ihrem Vorhaben aufzuhalten. Sonias Körper
verschwand binnen Sekunden vollständig in den Fluten und tauchte
dann auch nicht mehr auf.
Immer
noch starrte Ina entgeistert auf die Fluten und blickte dann entsetzt
zu Martin auf.
„Keine
Sorge. Sie hat ein Rettungsschwimmerabzeichen“, meinte Martin, doch
das beruhigte Ina nur ein wenig.
„Wirklich!“,
fügte Martin deshalb hinzu.
„Und
was ist mit Emil?“, fragte sie zögernd.
„Komm,
wir suchen uns erst einmal ein Boot, um Sonia zu folgen.“
„Okay.“
Ina nickte zustimmend und schien ihre volle Begeisterung wieder
gefunden zu haben.
„Wir
gehen einfach die Küste entlang. Irgendwo finden wir schon eins.“
Martin wies mit dem Kopf in die Richtung und Ina folgte ihm trottend.
Sie wusste nicht, wohin das führen sollte, doch Martin wusste es.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen