Vollständige Erklärungen gib's nicht
„Succubus!“
„Bitte
was?“, fragte Emil verdattert und starrte sie wie eine Erscheinung
an.
„Succubus“,
wiederholte Ina und
leierte dann eine Erklärung herunter, die klang, als hätte sie
diese auswendig gelernt.
„In
folklore traced back to medieval legend, a succubus (plural succubi)
is a female demon appearing in dreams who takes the form of a human
woman in order to seduce men, usually through sexual intercourse.“
„Wieso
erzählst du mir das in Englisch?“ Emil
deutete auf den Titel 'Fabelwesen', der groß auf dem Buch stand.
„Auf
Wikipedia gab's den Artikel nicht auf Deutsch.“
„Aber
das ist ein Buch!“
„Das
ist jetzt egal! Fakt ist: Lilian ist ein Dämon und sie will dir die
Lebensenergie aussaugen!“ Ina wedelte bedrohlich mit dem
Zeigefinger in seine Richtung.
„Das
hast du aber so nicht in der Erklärung gesagt“,
verteidigte Emil sich.
„Stand
in einem anderen Buch.“
„Aber
das war doch auch kein
-“
In
dem Moment drangen Kampfgeräusche aus dem ersten Stock zu ihnen
hinunter. Schreie von denen Emil wusste, woher sie kommen mussten. Er
und Ina tauschten nur kurze Blicke aus, dann stürmten sie nach oben.
Die
Tür schwang mit einem lauten Schlag auf und Lilian und Marie, die
scheinbar gerade aufeinander losgehen wollten, erstarrten in ihrer
Bewegung. Der Typ lag bereits bewusstlos daneben auf dem Boden.
Das
war endgültig zu viel und Emil riss der Geduldsfaden. „Okay, was
wird hier eigentlich gespielt?!“
„Ist
er tot?“, fragte Ina entsetzt, die über Emils Schulter lugte.
„Er
ist nicht tot“, beantwortete Lilian wohl lieber Inas als Emils
Frage.
„Ich
sollte lieber gehen“, hauchte Marie schüchtern, griff nach ihrem
Heft und stahl sich binnen Sekunden an Emil und Ina vorbei aus dem
Zimmer.
„Mom-“,
wollte Emil ihr noch nachrufen, da war Marie
aber schon verschwunden. Als er sich Lilian wieder zu wandte, begann
diese bereits händeringend nach einer Erklärung zu suchen, doch die
Beste, die ihr scheinbar auf Anhieb einfiel, war nur: „Es ist nicht
so, wie es
aussieht!“
„Wie
denn dann?“, fragte Emil.
Lilian
biss sich auf die Unterlippe und sah hilfesuchend zu Ina, die ihr
natürlich überhaupt nicht helfen konnte und es auch nicht wollte:
„Ich
hab dir gesagt: Sie ist ein Dämon!“
„Ist
sie nicht!“, warf Emil sofort ein. „Hör nicht auf -“
„Ja,
bin ich.“ Lilians Miene war starr und sie ballte die Hände zu
Fäusten. „Ich bin ein Dämon.“
„Bitte
was?“ Emil starrte sie ungläubig an und Ina rief laut: „Siehst
du, siehst du!“ Bis Emil ihr den Mund zu hielt.
„Ich
bin eine Succubus, um genau zu sein“, erklärte Lilian. „Und
ich“, sie trat einen Schritt nach vorn. „habe mir Sorgen um dich
gemacht.“
„Warum?“,
fragte Emil misstrauisch. Er wusste genauso viel wie am Anfang: Gar
nichts.
„Marie.
Sie hat irgendetwas geplant und wäre ich nicht gekommen -“
„Stop!
Marie? Was hat Marie damit zu tun?“
Ina
begann wimmernd nach Luft zu schnappen und Emil nahm vorsichtshalber
die Hand weg. Erstaunlicherweise war sie danach trotzdem noch still,
als Lilian ihm antwortete:
„Das
weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass sie es auf dich abgesehen
hat.“
„Ah
ja ...“
„Tut
mir Leid, dass ich dein Zimmer verwüstet habe.“ Sie sah sich
betreten in dem Scherbenhaufen um. Als sie den Kopf wieder hob, sah
sie direkt zu ihm hinüber und für einen Moment trafen sich ihre
Blicke. Egal wie weit sie weg stand, Emil sah ihre Augen so klar, als
würde sie direkt vor ihm stehen. In diesem tiefen Blau, das Wellen
schlug, wie ein unruhiger Ozean, verlor Emil sich.
Er
merkte, wie seine Beine sich in Bewegung setzten und schnurstracks
das Zimmer durchquerten. Lilians Präsenz spürte er sofort, als er
ihr näher kam. Die Wärme, die von ihr ausging, war angenehm und zum
ersten Mal wurde er in Gegenwart eines Mädchens nicht nervös. Emil
war ihr schon so nahe, jetzt wollte er mehr. Seine Hände legten sich
auf ihre weichen Wangen. Ein Schritt und er war ihr so nahe, wie noch
nie einem Mädchen. Seine Lippen waren ihren so nahe, dass
er ihren Atem auf
seinem Gesicht spürte.
Emil wusste,
dass er sie spüren
wollte. Jetzt und hier. Er schloss die Augen, als er sie mit den
Händen zu sich zog.
Ein
heftiger Schlag in den Magen ließ ihn zurück zucken. Er
ließ unweigerlich Lilian los. Ina schob sich zwischen die Beiden und
drückte Emil vorsichtshalber noch das dicke Buch in die Arme, damit
er seine Finger bei sich behielt.
„Hier
wird niemandem die Lebenskraft ausgesaugt!“ Ina warf Emil und
Lilian abwechselnd böse Blicke zu.
„Aber
...“, röchelte Emil, der sich noch fragte, warum Ina ihre
Ellenbogen so fest hatte ausfahren müssen.
„Beruhig
dich, bitte.“ Lilian hob beschwichtigend die Hände. „Es war
niemals meine Absicht, das zu tun.“
„Und
was war das gerade?“, keifte Ina.
„Ich
mach das nicht absichtlich.“
„Sondern?“
Lilian
seufzte laut auf. „Es wird glaube ich Zeit, euch die ganze Wahrheit
zu verraten.“
„Dann
schieß mal los, Schätzchen!“
Bevor
Lilian antwortete, warf sie Emil noch einen flüchtigen Blick zu,
dann konzentrierte sie sich auf Ina. „Wie du schon sagtest. Ich bin
eine Succubus. Normalerweise ist das auch kein Problem, solange ich
einen Jungen nicht küsse, noch sonst was mit ihm mache.“
„Sex
haben?“, bohrte Ina nach.
„Zum
Beispiel.“ Immer wieder warf Lilian Emil nervöse Blicke zu. „Aber
bei Emil scheint das anders zu sein. Seine Quelle liegt so weit
offen, dass er sich angezogen fühlt, ohne dass ich dagegen etwas
machen kann.“
„Dich
zum Beispiel von ihm fernhalten?“
„Das
würde ich auch! Wenn Violetta nicht damit angefangen hätte.“
Als
Ina sie nur fragend ansah, ergänzte sie: „Marie. Sie hat irgendwie
von Emils Quelle mitgekriegt und will sie nun nutzen.“
„Sie
will ihn also auch aussaugen!“
„Ich
weiß es nicht. Wirklich nicht, aber ich will nicht, dass sie das
tut, was immer es ist. Deshalb bin ich hier.“
Jetzt
mischte sich Emil ein, der bis dahin nur zugehört hatte: „Woher
wusstest du, dass sie kommen würde?“
Das
brachte Lilian komplett aus dem Konzept und sie druckste erst einige
Zeit herum, doch da hatte Emil schon die nächste Frage gestellt.
„Und dieser Kerl?“
„Keine
Ahnung, er hat mich auf dem Weg hierher angegriffen“, beantwortete
Lilian die Frage schulterzuckend und sichtlich erleichtert.
Ina
sah sich im Zimmer um. „Wo ist der eigentlich? Hier liegt er nicht
mehr.“
„Marie
muss ihn zurück geholt haben.“
„Und
wer sagt mir, dass du ihn nicht aufgefressen hast?“
„Ach
komm schon!“ Lilian stieß genervt die Luft aus. „Ja, ich hab ihn
bewusstlos geküsst, aber nein: Ich
habe ihn weder aufgefressen, noch irgendwo hin gezaubert. Ich kann
nicht zaubern!“
„Aber
Marie.“
„Ja!
Und jetzt lass die blöden Fragen, I... wie hießt du noch gleich?“
„Ina!“
„Achja,
stimmt ... Sonia murmelte was davon, als sie dich letzten Samstag
schlafen gelegt hat.“
Noch
bevor Ina ihr irgendetwas an den Kopf werfen konnte, hatte Emil sich
wieder in das Gespräch eingemischt. „Dann ist es also wahr. Alles
was Ina erzählt hat ist wahr.“
„Was
hat sie denn erzählt?“ Lilian war neugierig geworden.
„Will
Marie wirklich nur meine Lebensenergie?“, fragte Emil mit einem so
traurigen Blick, dass beide Mädchen im ersten Moment nicht wussten,
was sie darauf sagen sollten.
Bis
Lilian aussprach, was Emil sich schon gedacht hatte, aber nicht
wahrhaben wollte. „Es ist ein Spiel für sie und das Einzige, was
sie interessiert ist zu gewinnen. Ich wünschte ich könnte dir
sagen, was du damit zu tun hast, aber das kann ich nicht.“
„Was
ist das für ein Spiel?“
„Zwischen
einem Dämon und einer Hexe, einer Dämonenjägerin.“ Für einen
Moment tauschten Lilian und Emil einen langen ernsten Blick aus, bis
Ina plötzlich auf quietschte:
„Das
ist wie mit Vampiren und Vampirjägern! Wie cool!“ Dafür erntete
sie nur genervtes Stöhnen. „Aber was ich noch nicht verstehe:
Warum siehst du heute normal aus, Lilian?“
„Wie
bitte?“
„Keine
schwarzen Haare, blaue statt grüne Augen.“
„Weil
ihr zwei Schnapsnasen nicht betrunken seid“, erwiderte Lilian als
wäre das selbstverständlich.
„Alkohol
...“
„...
lässt uns Dämonen sehen?“, vollendete Ina Emils Gestotter.
„So
was in der Art. Es ist mein wahres Ich, das ihr gesehen habt, meine
Dämonenform könnte man sagen. In der Regel fällt das aber keinem
auf.“
„Kann
man so auch eine Hexe erkennen?“
„Geschulte
Spezialisten können das, ja.“
„Wer
sind denn solche Spezialisten?“
„Egal!
Ich hab euch eigentlich schon viel zu viel verraten. Wenn ihr mich
entschuldigen würdet.“ Lilian schob sich an den Beiden vorbei in
Richtung Tür, doch bevor sie dort ankam, drehte sie sich noch einmal
um. „Entschuldige nochmal mit der Scheibe. Ich bezahle
das!“
„Musst
du nicht!“ Emil lächelte leicht. „Wir haben eine gute
Haftpflichtversicherung!“
Für
einen kurzen Moment erwiderte sie das Lächeln, dann war sie
gegangen.
„Was
war das denn bitte jetzt?“, beschwerte sich Ina neben ihm.
„Was
war was?“
„Sie
ist böse!“
Emil
verdrehte genervt die Augen, als sein Blick an seinem Schreibtisch
hängen blieb.
„Ich
muss lernen.“
„Wie?“
Ina folgte verwirrt
seinem Blick, als Emil sie bereits aus dem Zimmer schob und sich mit
Nachdruck von ihr verabschiedete:
„Tschüss,
Ina, wir sehen uns Montag.“
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